… Wie angenehm, wie unspektakulär, wie wirklichkeitsnah, wie eingängig scheint dagegen doch ein Ausstellungstitel wie „Schichtarbeit“. Darunter kann sich doch jeder gleich etwas vorstellen. Doch Vorsicht, die Sache ist komplex.
Schichtarbeit – das verweist zunächst auf Müh und Plag, oder genauer: auf die Organisation der Arbeit in mehreren, gemeinhin fest definierten Sequenzen. Zwar variabel für den einzelnen, mal Früh-, mal Spät-, mal Nachtschicht, aber mit klar definiertem Beginn und Ende. Da stellt sich doch die Frage, ob das auch für Künstler gelten kann, oder ob sie nicht vielmehr, wie Minister das gelegentlich für sich äußern, ständig im Dienst sind. Die Antwort darauf hängt vom Künstlerbild ab und von individuellen Dispositionen. Zu Ende diskutieren können wir sie hier jedenfalls nicht.
Schichtarbeit bedeutet im wörtlichen Sinne aber auch ganz konkret das Schichten als Methode der Anordnung von Masse im Raum. Es ist das modulare Prinzip der Moderne, die Kombination von vorgefertigten Bestandteilen zu immer neuen Erscheinungsformen.
Schichtarbeit kann schließlich auch als ein Lebensprinzip verstanden werden - als das Auf- oder Abtragen von Schichten – Auftragen im Sinne der Stufen, wie sie Hermann Hesse beschrieben hat, oder Abtragen im Verständnis von Häutungen und immer weiterem Vordringen zum Wesentlichen.
Für Künstler ist dieser Prozess von besonderer Bedeutung, weil sie ständig vor unbekanntem Gelände stehen und sich fragen, ob sie sich in die richtige Richtung bewegen. Für sie gilt daher umso mehr, was Kirkegaard in die kluge Beobachtung gefasst hat, dass man immer nach vorne lebe, aber nur nach hinten, im Rückblick sein Leben verstehen könne.
So nüchtern der Titel daherkommt, so vielgestaltig also ist er. Und so nüchtern, ja spröde oder gar ruppig manchem vielleicht die gesamte Ausstellung erscheinen mag, so überlegt und konsequent ist sie.
Was sehen wir? Ein Stapel Kartons, zwei Stapel Steine und fünfzehn Papierbögen an die Wand gepinnt. Darauf zu erkennen: ein paar zittrige Linien, die teilweise sogar das Papier verletzen, und eine Reihe von Punkten oder Flecken.
Keine Sockel, keine Rahmen, keine Farbe, kein Glanz. Nichts was einen auf den ersten Blick gefangen nimmt, nichts, was einem sofort signalisiert: das sind Kunstwerke.
Zugegeben: leicht machen es die Kernbachs dem Betrachter nicht, aber das ist auch nicht die Aufgabe der Künstler. Künstler sollen es sich nicht leicht machen und sie können es folglich auch nicht den Betrachtern leicht machen.
Petrarca hat einmal gesagt: Ich will nicht, dass ohne Mühe gelesen wird, was ich nicht ohne Mühe geschrieben habe.
Künstler sollen es dem Betrachter aber auch nicht unnötig schwer machen, also etwas vorgaukeln, wo nichts dahinter ist. Die Mittel müssen dem Anliegen entsprechen. Das hat schon Kant bei seiner Reflexion über den Kern des Ästhetischen und das Wesen des Urteils darüber festgehalten: „Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.“
Kunst hat also zunächst keinen Zweck zu erfüllen, der außerhalb ihrer selbst liegt; aber sie muss in sich, in ihrer Form zweckmäßig, d.h. angemessen und stimmig sein. Die Erscheinungen der Kunstwerke sollen also dem Anliegen des Künstlers, dem Material und der Aussage entsprechen. Stoff, Form und Gehalt, so die klassische Forderung, sollen sich im Kunstwerk in eines fügen.
Ob dies geschieht und wie das geschieht, dem sollten wir also nachgehen, um herauszufinden, was in dieser Ausstellung überhaupt geschieht, ob das Gezeigte Sinn macht, das heißt einer bildnerischen Logik folgt. und ob es am Ende auch ästhetisch überzeugt, d.h. ob Stoff, Form und Gehalt im künstlerischen Prozess stimmig gefügt und dadurch etwas hervorgebracht wurde, das wir Kunstwerk nennen können.
Fangen wir bei den Arbeiten von Nikolaus Kernbach an:
Den Schlüssel zu seinem Werk geben uns die beiden Stapel von Steinen. Der unbedarfte Betrachter sieht sofort: aha, das ist ein Granit – ein schöner, schwerer, harter und teurer Stein. Nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Es handelt sich nämlich um einen Gneis. Der ist zwar verwandt mit dem Granit, hat aber deutlich andere Eigenschaften. Er ist weniger homogen als der Granit, vor allem aber ist er in Schichten aufgebaut und lässt daher bestimmte Bearbeitungsformen zu, die in Granit nicht möglich wären.
Mit der Auswahl des Steins, seines Stoffes – er stammt in diesem Fall aus einem Steinbruch südlich der Alpen in Graubünden, der für ihn eine magische Anziehungskraft entwickelte, mit dieser Wahl hat Nikolaus Kernbach eine erste ästhetische Entscheidung getroffen.
Nun war er so freundlich, uns gleich zwei Stapel hinzustellen, was uns in die Lage versetzt, vergleichen zu können. Denn im Differenzieren liegt die Chance des Erkennens. Und wenn wir das tun, dann stellen wir fest, dass es eine Menge Unterschiede gibt.
Während die Kanten des einen Stapels fein geschliffen sind, sind sie beim anderen grob gebrochen, während der eine kerzengerade, ja blockhaft nach oben wächst, steht er andere da wie der schiefe Turm von Pisa – von Lage zu Lage gerät er in immer bedenklichere Schieflage. Und wenn wir noch genauer zwischen die Lagen schauen, dann sehen wir, dass bei der blockhaften Arbeit die einzelnen Lagen nicht exakt aufeinander passen, während sie bei der auskragenden Skulptur millimetergenau ineinander fügen.
Das ist verblüffend, dadurch entsteht Spannung und das lässt nach dem Prozess des Entstehens fragen. Die Frage lautet daher: Warum greifen bei dem Steinblock, der so schön blockartig gestapelt ist, die einzelnen Lagen nicht exakt ineinander und warum kragt die andere Arbeit immer weiter aus, obwohl die einzelnen Schichten perfekt ineinander gelagert sind.
Hat der Künstler getrickst, also so getan, als sei alles aus einem Block gearbeitet, in Wirklichkeit aber hat er die Teile nach Gusto versammelt, bearbeitet und gefügt, oder steckt eine exakte Logik in seiner Vorgehensweise, die das Resultat der Arbeit ins Verhältnis zu seinem bildnerischen Tun setzt? Im ersten Fall wäre er so etwas wie ein barocker Illusionist, im anderen Fall würde er dem Bestreben der Moderne folgen, die Welt in ihrer Erscheinung zu analysieren, zu zerlegen und ihren Wesensmöglichkeiten entsprechend wieder neu zusammenzusetzen. Wer Nikolaus Kernbach kennt, weiß, dass nur Letzteres in Frage kommt.
Die wesentlichen Bearbeitungsmöglichkeiten, die der Gneis zulässt, aber sind: Brechen, Spalten, Sägen, Schleifen und Behauen. Darin liegt seine innere Logik. Und dieser Logik folgend ist N.K. verfahren: Er hat den jeweils einen ganzen Block bearbeitet, hat ihn einmal gesägt, daher die glatten Kanten, hat ihn das andere Mal gebrochen, daher die rauen Außenseiten, hat beide Blöcke präzise gespalten, daher die jeweiligen Lagen und hat sie wieder sorgfältig aufeinander geschichtet.
Und hier beginnen nun die Unterschiede: während er bei der blockhaften Skulptur die Reihenfolge vertauschte, also die oberste Lage zuunterst legte und jeweils die nächste darauf, passten die gespaltenen Lagen nicht mehr exakt ineinander und geben dem Block gewissermaßen neue Luft zum atmen – eine minimale Intervention mit erkennbaren plastischen Folgen.
Rätselhafter hingegen ist der andere Stapel. Auch er aus einem Block gearbeitet. Hier aber passen die Lagen verblüffenderweise exakt aufeinander, obwohl jede Lage erkennbar verschoben ist. Wie aber ist das möglich? Hier tut sich in der puren Erscheinung eine Lücke, ein Widerspruch auf, den der hellsichtige und nachdenkliche Betrachter gerne geschlossen hätte.
Die Lösung liegt darin, dass auch dieser Stapel zwar aus einem Block gearbeitet, der Block auch in Lagen gespalten. Diesmal wurden die Lagen aber in ihrem ursprünglichen Zusammenhang belassen und passen daher genau ineinander. Damit aber die auskragende Form (der schiefe Turm) entstehen konnte, mussten die einzelnen Lagen im Nachhinein in Form gebracht, sprich behauen werden. Der Block muss also ursprünglich bedeutend größer gewesen sein und wurde durch klassische bildhauerische Bearbeitung zu seiner endgültigen und spannungsreichen Form gebracht.
Sie sehen: der Künstler hat nicht getrickst. Er hat sich der Möglichkeiten, die in der Logik des Materials liegen (nämlich die innere Schichtstruktur des Gneis) zu eigen gemacht, hat sie in einem variationsreichen instrumentalen Zugriff (also durch Brechen, Spalten, Sägen, Schichten und Behauen) in eine Form gebracht, und hat dabei eine Spannung erzeugt, eine Irritation der Form, die den Betrachter zur aktiven Auseinandersetzung auffordert.
Und was ist der Sinn des Ganzen? werden ganz Hartnäckige jetzt womöglich fragen. Die Antwort lautet: Das was der Sinn aller Kunst und allen Lebens ist: die Augen öffnen, die Sinne schärfen, die Struktur der Welt erkennen, die Bausteine der Welt erfassen, die Möglichkeiten des Schöpferischen erproben, den Intellekt reizen, die kommunikative Auseinandersetzung, kurz das erhellende Gespräch ermöglichen.
Wir sind in dieser kommunikativen Auseinandersetzung natürlich noch nicht am Ende, wir haben ja erst zwei der hier gezeigten 18 Arbeiten besprochen.
Wir haben aber mit den Steinskulpturen einen Ausgangspunkt definiert, von dem aus sich auch die Zeichnungen von Nikolaus und die Arbeiten von Andrea Kernbach erschließen. Wenden wir uns also den Zeichnungen mit den bizarren schwarzen Kreidelinien zu.
Was dabei überrascht, ist zunächst ihr außergewöhnliches Format – ein Superbreitwand- oder Cinemascopeformat. Auch das kein Zufall, keine Willkür, sondern eine Notwendigkeit, eine Konsequenz, die sich aus der konzeptionellen Anlage der Arbeiten ergibt.
Und was sehen wir auf diesen außergewöhnlichen Blättern?
Zunächst Spuren der Bearbeitung: Prägungen, Knicke, Aufschürfungen der Papieroberfläche, dann ein zartes Gespinst aus teils zittrigen, teils geraden, oft langen, manchmal auch recht kurzen Linien. Es stellt sich die Frage, wie sind die Linien auf das Papier gekommen?
Guillaume Apollinaire, der Poet und Freund Picassos, hat bereits vor rund 100 Jahren (1913) erklärt: „Man kann malen, womit man will, mit Pfeifen, mit Briefmarken, mit Post- oder Spielkarten, mit Wachstuchfetzen, mit Zeitungen und Tapetenpapieren“. Und tatsächlich: die Kunst hat sich in der Moderne die Freiheit genommen, jeden Gegenstand in Kunst zu verwandeln oder als Material und Medium zur Herstellung von Kunst zu verwenden. Denken Sie nur an die immense Ausdehnung des Materialsets bei Beuys, der demnächst wieder einmal in Ravensburg gezeigt wird, oder an die Oxydation – Bilder von Warhol, die mit Urin geschaffen wurden.
Nikolaus Kernbach ist nicht so spektakulär vorgegangen, aber er hat das Spektrum der Bildhauerzeichnung in diesen neuen Arbeiten markant erweitert.
Diese Zeichnungen sind mit P betitelt. P steht für Profil und das Profil, das dabei gemeint ist, ist das Profil seiner Gneis-Blöcke oder, genauer: die Kanten der einzelnen Lagen.
Sie können sich denken: Wenn man beginnt mit zentner- oder gar tonnenschweren Steinen zu zeichnen, dann bedarf es spezieller Vorrichtungen, nennen wir sie mal Staffeleien, die es erlauben, die rauen Kanten des Steines auf die zarte Oberfläche eines blütenweißen Papiers zu übertragen. Denn auch dies darf nicht willkürlich geschehen, sondern folgt der Strenge eines Konzeptes – etwa dem Wunsch und Bemühen, alle Kanten einer Lage in ihrer spezifischen Ausdehnung zu übertragen. Daher die Überbreite des Papiers, die sich an die Formate der Steine anlehnt, daher die Mischung aus zittriger Linie, die den gebrochenen Stein, und glattem Strich, der den gesägten Stein repräsentiert.
Was ich Ihnen hier als Mach-Art, als Prozess der Entstehung vorstelle, ist freilich nur das Konzept. Hinzu kommt bei jedem einzelnen Blatt immer wieder von neuem die Frage des Künstlers, wo die Linie beginnen und wie sie fortsetzen, und die Entscheidung des Künstlers, ob er die einzelnen Linien sich überlagern oder sie lieber parallel entwickeln lässt, ob und wie sie sich kreuzen sollen und welchen Rhythmus aus Horizontaler und Vertikaler er hervorbringen will.
Keine Frage, das Konzept ist streng, die Anmutung erscheint zunächst rau, der Umgang mit dem Stein ist jedoch von erlesener Zartheit und es gibt auf jedem Blatt eine Fülle dessen zu entdecken, aus der die Welt, hier die Alpen gebaut sind, und wie der Mensch, hier der Künstler sie reflektiert und arrangiert.
Soviel zu Nikolaus Kernbach, wechseln wir zu den Arbeiten von Andrea Kernbach.
Beide Künstler haben ihr Studium an der Kunstakademie in Nürnberg absolviert, beide unterhalten bekanntlich ihr Atelier in Aulendorf und haben auch sonst viel gemeinsam. Seit einigen Jahren stellen sie auch regelmäßig gemeinsam aus.
Künstlerisch gestartet sind sie freilich von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten. Nikolaus Kernbach als Steinmetz und Steinbildhauer, Andrea Kernbach als Malerin und später mit Papier- und später Kunststoffarbeiten.
Mit der Zeit haben sich die künstlerischen Fragen, die sie beschäftigten, immer stärker angenähert und auch die Lösungen, die sie dafür fanden, immer öfter gekreuzt. Daher mag jedem Betrachter, die formale Parallelität des Papierstapels von Andrea Kernbach und der Steinlagen von Nikolaus Kernbach ins Auge stechen.
Beide Male handelt es sich um blockhafte Gebilde, Verdichtungen von Masse, die durch Schichtung entstanden sind. Und doch haben sie eine ganz unterschiedliche Machart, eine ganz unterschiedliche Anmutung und auch eine recht unterschiedliche Ausstrahlung. Sie können dies dadurch überprüfen, indem Sie sich fragen, welche der beiden Schichtungsformen Ihnen kompakter oder labiler oder gewichtiger oder offener oder variabler oder natürlicher oder gefährlicher vorkommt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und sie würde Ihnen immer neue Unterschiede offenbaren.
Ich möchte mit Ihnen aber einen Schritt weiter gehen und zu den Zeichnungen von Andrea Kernbach wechseln.
Die Arbeiten tragen die Bezeichnung „L“ für Linie oder „LG“ für Linie auf großem Blatt.
Auch diese Zeichnungen gaukeln nichts anderes vor als das was sie sind. Sie bilden keine äußere Welt ab, illustrieren keine Geschichte, fangen kein wie auch immer geartetes Licht ein, kreieren keine imaginäre oder gar fantastische Szenerie.
Sie sind, was sie sind. Schwarze Linien auf weißem Grund. Damit stehen sie in der Tradition der Moderne.
Ausgangspunkt ihres Entstehens sind das Papier und ein Stift. Allerdings kein beliebiges Papier, sondern ein exquisites, ein speziell für diesen Zweck ausgewähltes Papier – ein Bütten aus Baumwollstoff. Nur ein solches Papier verfügt über die kapillaren Eigenschaften, die solche Zeichnungen hervortreten lassen.
Ich sage bewusst ‚hervortreten’, ich könnte auch ‚aufscheinen’ sagen. Beide Begriffe verweisen auf die Tiefe, auf den Hintergrund, aus denen die Linien und Punkte der Zeichnungen herauswachsen.
Denn wenn Sie sie genau betrachten, stellen Sie fest, dass die Farbe bei diesen Zeichnungen nicht auf der Vorderseite aufgetragen ist, sondern von der Rückseite aus, durch das Papier hindurch erscheint. Daher die unscharfen Kanten, daher auch die mattierte, die opake Anmutung.
Eine solche indirekte Form der Zeichnung hat große Vorbilder in der Moderne. Paul Klee hat ein solches Verfahren in seinen bezaubernden Ölfarbzeichnungen während der Bauhauszeit praktiziert. Dafür bestrich er einen Bogen mit schwarzer Ölfarbe und legte ihn mit der bestrichenen Fläche nach unten auf ein leeres Blatt Papier und prägte mit einem Griffel die Zeichnung durch die Ölfarbe auf den Zeichnungsbogen.
Andy Warhol entwickelte in seinen frühen Zeichnungen ein ähnliches Verfahren, die als blotted line bekannt wurde. Warhol zeichnete dafür zunächst auf ein weißes Papier, zog die Linien dann mit der Tusche nach und nahm von dem noch feuchten Papier anschließend einen Abklatsch. Erst die dadurch gewonnene höchst sensitive und außerordentlich fragil wirkende Kontur stellte die eigentliche Zeichnung dar und vermittelte dem Künstler den gewünschten Eindruck eines „gedruckten Originals“.
Ein solches indirektes Verfahren der Erzeugung von Bildern ist ein sehr gewagtes, ein sehr spannendes und ein recht geheimnisvolles Verfahren.
Was entsteht ist zwar direkter Ausfluss des zeichnerischen Tuns, ist aber nicht unmittelbar zu kontrollieren und lässt daher Spielraum für autonome Prozesse, die sich aus dem Zusammenwirken von Farbstift und Papier, von Tempo und Druck der Stiftführung und Reaktion der Zellulose ergibt.
Die Bedingungen aus Material und Verfahren verlangen das Arbeiten in einem Zug, so wie es in der Malerei das al fresco, das Arbeiten im frischen Putz erfordert. Aktion und Reaktion müssen in Balance gehalten werden.
Die Konsequenz daraus darf jedoch nicht hektisches Tun, sondern muss meditatives Einlassen sein, Konzentration auf das Papier, auf den Stift und auf die Linie, jede Linie Zug um Zug, in ihrem je eigenen Rhythmus, mit anhaltendem, und doch wechselndem Druck des Stiftes auf das Papier.
So streng das Verfahren ist, so variabel ist das Ergebnis, nicht Zufall und auch nicht mechanisches Konstrukt, eher eine schimärenhaftes Gebilde, das aus dem Nichts auftaucht und sich in seinem eigenen Rhythmus von Punkten fortpflanzt.
Ich will zum Schluss aber noch etwas Grundsätzliches ansprechen – nämlich das Spannungsverhältnis zwischen Konzept und Experiment in der modernen Kunst.
Prinzipiell ist es ein Kennzeichen der modernen Kunst, dass sie sich über die Art ihres Entstehens Rechenschaft ablegt. Sie darf angesichts der erkennbaren Komplexität der Welt nicht mehr naiv sein – einfach schön und ergreifend -, sondern muss immer auch ihre Bedingungen mit reflektieren. Und dazu gehören natürlich auch alle anderen Kunstwerke, die zu einem künstlerischen Problem bereits geschaffen wurden, deshalb ist Kunst in einem entwickelten Kunstbetrieb immer auch Kunst über Kunst.
Wenn man will, kann man Künstler in zwei Gruppen einteilen – in die konzeptionellen und in die experimentellen. Die einen haben einen fertigen Entwurf im Kopf, eine schlagende Idee, eine klare Vorstellung und realisieren sie vor einem verblüfften Publikum, das dem Genie, das sich vor ihnen präsentiert, begeistert applaudiert. Picasso war so eine Gestalt. Er erklärte selbstbewusst: „Ich suche nicht, ich finde.“
Picasso malte sein erstes Meisterwerk mit 20, seine „Demoiselles d’Avignon“ mit 26 Jahren und hatte von da an künstlerisch und wirtschaftlich – das darf man in einem Haus wie diesem sagen - ausgesorgt.
Sein Gegenstück, Paul Cezanne hatte dagegen seine erste Einzelausstellung mit 56 Jahren. Sein Motto war nicht „Ich finde“, sondern „Ich suche beim Malen“. Er war der experimentelle Geist. Sein Suchen konnte es mit sich bringen, dass er ein Modell 150 mal kommen und auf einem wackligen Stuhl still sitzen ließ, um das Gemälde am Ende doch zu verwerfen. Cezannes Vater, ein Bankdirektor übrigens, musste den Sohn mehr als 30 Jahre lang alimentieren. Er hat sich nie beklagt – und das zurecht, denn seinen Namen Louis-Auguste kennen wir heute nur noch, weil er einen Sohn namens Paul hatte, der meinte, unbedingt malen zu müssen.
Kernbachs, um den Bogen nun endgültig zu schließen, gehören m.E. zu den experimentellen Künstlern. Sie arbeiten sich an ihren Ideen und Vorstellungen entlang, lassen sich ein auf das Verfahren von Versuch und Irrtum, kommen dabei vielleicht nur langsam, aber sie kommen Stück für Stück voran – und wir haben das Privileg ihnen dabei zusehen zu dürfen.
Prof. Dr. Thomas Knubben