Was wird sichtbar von dem, was ich tue? Eine große Frage. Jeder, der verantwortungs- und reflexionsbegabt ist, kennt sie und prüft die Antworten.
Im philosophischen Sinne signalisiert die Frage die Abwägungsbereitschaft für jedes Planen und Handeln. Im ökonomischen Sinne betrifft sie die Kalkulation von Investment und Rendite. Im künstlerischen Sinne zielt die Frage auf das Verhältnis von konzeptueller wie technischer Vorleistung und ästhetisch künstlerischem Resultat.
In diesem letzteren Fall wird die Frage auch präzisiert und könnte heißen: Was bewirkt es, wenn ich meine Zeichnung von einer Arbeitsoberfläche aus zu einer Ertragsoberfläche auf den Weg bringe und in dieser Ertragsoberfläche mein eigentliches Zeichenresultat sehe?
Die Überraschungen, die die Antworten dabei geben, sind verständlicherweise groß.
Vor gut einem Jahr hat die Künstlerin Andrea Kernbach mit einer Werkgruppe begonnen, die den künstlerischen Prozess direkt befragt.
Es ist eine Art künstlerische Feldforschung, die sie damit betreibt. Für ihre ›Forschungen‹ benötigt Andrea Kernbach 300 Gramm schweres Hadernpapier (aus Textilem, nicht aus Zellulose hergestellt) im quadratischen Format und Filzstifte, die entweder mit roter oder schwarzer Tusche geladen sind. Rot steht für Emotion, schwarz für Distanz. Die grafischen Ergebnisse sind jeweils monochrome Felder, die sich, durch Linienzug auf der
Rückseite, also der Arbeitsoberfläche, durch das Papier saugen und sich auf der anderen Seite spiegelverkehrt und verwandelt präsentieren.
Diese ›mutierte‹ Zeichnung auf der Ertragsoberfläche, der eigentlichen Schauseite, setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen und ist nur aufgrund des Erfahrungswertes der Künstlerin annähernd vorhersehbar.
Kalkulation wird zur Spekulation.
Einmal sind es die horizontal geführten Linien, die mit variierbarer Druckintensität und unterschiedlicher Verweilzeit von der Künstlerin rhythmisiert werden, um den Durchschlag im Papier zu steuern. Zum andern übernimmt die kapillare Saugfähigkeit des Hadernpapiers diese Vorgaben und bringt sie in den Endzustand der eigentlichen Zeichnung.
Mit anderen Worten: Die Künstlerin muss ihre konzeptuelle Vorstellung und ihre technische Leistung gewissermaßen aus der Hand geben und,
ohne weiteren Einfluss der Entwicklung ihrer Impulse auf der Arbeitsseite, zusehen, wie sich die Schauseite konstituiert.
Durch diese Vorgehensweise wird die grafische Planung irritiert und ein ganzes Stück weit dem Zufall überlassen.
Man kann auch sagen: Die auf den Weg gebrachte Zeichnung wird emotioniert, verlässt ihre Fassung, um sich eigenständig zu entwickeln,
sucht etwas Eigenes.
Was geschieht, wenn man etwas tut? Was wird sichtbar, wenn optische Verfahren durch solcherart Filter geschickt werden?
Mit der Verwendung von Hadernpapier, das mit seiner hohen Opazität, die den Durchscheineffekt fast vollständig verhindert und so allein
Fließeigenschaft und Saugleistung instrumentiert, werden die Vorgaben der Arbeitsseite sozusagen auf den Weg durch das Papier geschickt.
»Was bleibt sichtbar von dem, was ich tue?« fragt sich Andrea Kernbach und hält sich dadurch selbst in Spannung.
Diese Spannung ist vergleichbar mit einer Art Membran, auf deren Innenseite hineingetönt wird und deren Gegenseite das Verinnerlichte veräußert
beziehungsweise im kommunikativ-veröffentlichenden Sinne freigibt an Dritte.
Damit liegt in diesem Vorgang offensichtlich auch die Nähe zur Person und Persönlichkeit der Urheberin all dieser Zeichnungen.
Ganz allgemein: Was ist eine sich mitteilende Person anderes als ein durch das Gesichtsfeld tönendes Subjekt, ähnlich der so verfassten Zeichnung?
So kann man die Zeichnungen von Andrea Kernbach durchaus als ›personalisierte Zeichnungen‹ verstehen, die sich aus genau der Spannung heraus
entwickeln, die sie auf dem Weg von ihrer manuellen Entstehungsseite (Arbeitsoberfläche) hin zu ihrer entwickelten Schauseite (Ertragsoberfläche)
durchlaufen und so ihr Endstadium, das eigentliche künstlerische Ergebnis erreichen.
Vielleicht wird hier diese Spannung zwischen Impulsgebung und Resultat mit der realen landwirtschaftlichen Feldarbeit am besten verdeutlicht.
Wenn der Traktor seine Arbeit Bahn für Bahn macht und so sein Feld bestellt, arbeitet er auch noch nicht am Ergebnis, sondern bringt etwas auf den
Weg, das zum gewünschten Resultat werden wird. Arbeit für Ernte.
Investition für Ertrag. Oder, in Andrea Kernbachs Zeichnungsidee: investierte Vorzeichnung für autonome Endzeichnung.
Auch hier wird wieder die Nähe der Zeichnungen zum Personalen deutlich. Zwischen den in Leserichtung verfassten Linienkontingenten und ihrer
seitenverkehrten Offizialität als grafischer Text liegt ein Medium, das die Rolle der Gesichtsmaske übernimmt: das Hadern als Membran.
Das Medium Hadern als Membran bestimmt schlussendlich den Charakter einer jeden Zeichnung, verleiht sozusagen die jeweilige Persönlichkeit und
macht jede Zeichnung zu einem emotionierten Ereignis, das sichtbar macht, was die andere Seite zwar intendieren kann, aber doch nicht unbedingt
ausformulieren oder interpretieren will.
Die Künstlerin sowie das Hadernpapier sind also beide gemeinschaftlich aktiv an der endgültigen Zeichnung beteiligt.
Diese ist einmal abhängig vom Duktus des Tuschestiftes sowie dessen Verweildauer und zum zweiten co-abhängig von den kapillaren Saugeigenschaften des Papiers. Damit übernimmt das Hadern jenen Teil des Gestaltungsauftrages der Künstlerin, der von ihr nicht mehr
beeinflussbar und kontrollierbar ist, aber eine Ausformulierungshoheit beansprucht.
So ergibt sich eine Situation, die eine Art Schwingungsverhältnis zwischen Künstlerin und Hadernmedium aufbaut. Eine Oszillation von Handführung
und Saugeigenschaft entsteht, die einerseits und impulssteuernd als Partitur auf der Arbeitsseite verfasst ist und andererseits auf der Schauseite als
nterpretation gelesen werden kann.
Wer sich also fragt: Was wird sichtbar von dem, was ich tue? kann durchaus musikalisch verfahren, indem er seinen Lese- bzw. Partiturtext durch ein
entsprechendes Medium so instrumentalisiert, dass der Endzustand als Interpretation dieses Textes verstanden werden kann.
Bei Andrea Kernbach heißt dieser Vorgang schlicht: Zeichnung.
Dr. Herbert Köhler
Kunst- und Kulturpublizist
Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst
AICA-Mitglied
Association internationale des critiques d´art